— Zu den Tiefen Ihres Lebens gehört wahrscheinlich, dass Sie von 1985 bis 1988 Berufs- und Publikationsverbot in Rumänien hatten. Wie haben Sie diese Jahre erlebt?
Als einen deutlichen Einschnitt, obwohl ich damit gerechnet hatte: es war schließlich üblich, Lehrer zu entlassen, wenn sie einen Ausreiseantrag stellten. Diese Einschnitte bekam ich auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu spüren: 1. verlor ich meine Stelle als Gymnasiallehrer, ließ mich daraufhin noch am selben Tag beim dortigen „Nationaltheater“, wo ich den Direktor kannte, als Bühnenarbeiter („recuzitier“/Requisiteur, also Kulissenschieber) anstellen; 2. konnte ich nichts mehr veröffentlichen, auch meine bereits geplanten öffentlichen Lesungen wurden gestrichen. Eine überraschende Einladung kam im Januar 1986 aus Hermannstadt/Sibiu/Nagyszeben von dem ehemaligen Kathederchef der dortigen Germanistik, dem Romancier Georg Scherg. Ich fuhr also hin, das Publikum war schon versammelt (die Lesung war auch in der Presse angekündigt worden) – und im letzten Moment kam Georg Scherg und verkündete geknickt und ohne weiteren Kommentar, die Veranstaltung sei abgeblasen. Einige wenige, auch mich, lud er zu sich nach Hause ein für den Abend. 3. haben vermeintliche Freunde mich gemieden, vor allem, nachdem mein Offener Brief an den damaligen Innenminister Tudor Postelnicu auf BBC, Deutsche Welle und „Freies Europa“ (jeweils die rumänischsprachige Abteilung) gesendet worden war – diese „Freunde“ wechselten in Neumarkt/Targu-Mures/Marosvásárhely die Straßenseite, wenn sie mich kommen sahen. Auch Privatschüler wurden eingeschüchtert, meine – ziemlich gefragten – Dienste als Deutsch- und Englischlehrer nicht mehr in Anspruch zu nehmen; 4. wurde meine (Block-)Wohnung zwischen Winter 1985 und meiner Ausreise im Sept. 1988 in meiner Abwesenheit durchsucht und – was ich nicht wusste – verwanzt, also mit einem Funksender versehen; und zwar (wie ich aus dem „Studium“ meiner 870 Seiten dicken Akte bei der CNSAS mittlerweile weiß) in die Buchse für den Radioanschluss in der Wand eingebaut. Die Korrespondenz wurde verstärkt gefilzt – ein Schreiben vom damaligen Bundesaußenminister der BRD Hans-Dietrich Genscher an den Vorstand des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) in der „Sache Hellmut Seiler“ habe ich ebenfalls erst 2009 in Bukarest beim CNSAS gelesen. Und auch in öffentlichen Lokalen bin ich öfters abgehört worden, wenn ich mit Freunden (oder „Freunden“) dort Platz nahm, wie aus meinem „Dossier“ (D. U. I. = Dosar de Urmarire Informativa) hervorgeht.
— Welche Momente Ihres Lebens möchten Sie hier ins Licht rücken?
Als ich zum ersten Mal Lust verspürt habe, ein Gedicht zu schreiben; da war ich 14, und es war eigentlich als Veräppelung dessen gedacht, was damals als gängig galt. Es lautete (ich weiß es heute noch):
NACHT
Die Traktoren ruhen.
Die Bänke des Parkes sind frisch gestrichen.
Das Bügeleisen fährt über die Hosen.
Nacht.
— Den Lesern der Helikon sind Sie als Lyriker bekannt. Sie debütierten mit Gedichten, die einsamkeit der stühle wurde 1982 beim Dacia Verlag in Cluj-Napoca veröffentlicht. Ihre weiteren Bände sind mit zwei Ausnahmen ebenfalls Gedichtbände. Warum bevorzugen Sie die lyrische Form?
Lyrik ist unter den sprachlichen die konzentrierteste menschliche Ausdrucksform.
— Sie schreiben vorwiegend Gedichte, haben aber auch zwei Bände Kurzprosa veröffentlicht. Wie haben Sie angefangen Kurzprosa zu schreiben? Ist das eine andere Schreibweise? Was bringt dieser Gattungswechsel mit sich? Inwiefern entspricht dem Wechsel der Gattungen ein Wandel der Stoffe?
Tatsächlich schreibe ich seit meiner Gymnasialzeit auch Kurzprosa: anfänglich Stimmungs- und rhythmische Prosa, die an R. M. Rilke, Wolfgang Borchert, Heinrich Böll oder Johannes Bobrowski orientiert war. Dann entdeckte ich die Satire – und habe mir seither die Themen nicht mehr ausgesucht, ich wurde von ihnen gefunden; sie lagen sozusagen auf der Straße, die Absurdität des Alltags in der sozialistischen Willkür- und Mangelwirtschaft übertraf jede Vorstellungskraft.
Dieser Vorgang hat sich seit der Umsiedlung fortgesetzt: der Stoff sucht sich die Form. Wenn ich das Gefühl habe, mich mittels Gedichten nicht ausreichend zur Wehr setzen zu können, schreibe ich eine Satire. Übrigens: mit einem durchaus vergleichbaren Ergebnis. Aber auch die paar Lacher bei öffentlichen Lesungen werte ich als Sieg.
— Beim Lesen Ihrer Lyrikbände ist mir aufgefallen, dass die Gedichte immer kürzer geworden sind. Ihr neuester Lyrikband Gnomen: Gedankensplitter und lyrische Launen ist im Januar 2021 erschienen. Er enthält sogar bündige Einzeiler oder Zweizeiler, sog. Gedankensplitter, wie schon der Titel verrät. Wie sind Sie zu dieser lakonischen Form gelangt?
Grundsätzlich, auch wenn es nichts bringt: um der Logorrhöe unserer Zeit etwas Knappes entgegenzusetzen.
— Wie entsteht ein Gedicht? – ist eine Frage, die von den Lesern häufig gestellt wird. Könnten Sie uns etwas darüber sagen?
Zuerst fällt mir etwas auf, eine Besonderheit, eine Unstimmigkeit; im Idealfall fällt mir auch etwas dazu ein: die passende Formulierung, die passende Form; falls nicht, suche und „feile“ ich bis ich meine, dass es fertig ist, das Gedicht. Häufig genug gebe ich es in einer Erstfassung meiner Frau zu lesen: wenn sie etwas nicht versteht, habe ich etwas falsch gemacht.
— Sie halten seit 2020, also seit knapp einem Jahr, Lesungen und Vorlesungen u. a. vor Studierenden im Master-Lehrgang an verschiedenen Universitäten in Mittel- und Südosteuropa über das Internet. Wie funktioniert Literaturvermittlung bei Online-Lesungen?
Seit über einem Jahr finden literarische Gedenktage, Lesungen und sogar Festivals nur noch online statt. Das verleiht ihnen eine gewisse Distanz und Sterilität, über die auch eine funktionierende Technik nicht hinwegtäuschen kann. Wenn die mitspielenden Akteure einander kennen, wirken die Auftritte lebendiger als sie es eigentlich sind. Auch die beste Technik kann die physische Nähe nicht ausgleichen. Gerade das aber ist ja der eigentliche Charme einer Lesung, des Auftritts einer mehr oder minder bekannten Persönlichkeit: sie ist wirklich da, ganz nahe, zum Anfassen!
An mittlerweile fünf Universitäten habe ich (Vor-)Lesungen gehalten. Die Scheu der Studierenden, Fragen zu stellen, ist nach meiner Erfahrung durch die Online-Distanz nicht geringer geworden. Das heißt aber nicht, dass keine guten Fragen gefallen wären, nur die Spontaneität der Rückkopplung, die Lebhaftigkeit der Kommunikation ist nicht die gleiche wie bei körperlicher Präsenz. Als Ergänzung zum Normalunterricht kann sich diese Variante aber vielleicht auch post-coronal durchsetzen.
— Sie sind nicht nur als Dichter, sondern auch als literarischer Übersetzer tätig. Sie haben rumänische Lyrik von Rodica Draghincescu, Ioan Flora, Emilian Galaicu-Păun, Robert Şerban nachgedichtet und beim Pop Verlag in Ludwigsburg veröffentlicht. Woran arbeiten Sie gerade? Nach welchen Kriterien wählen Sie die zu übersetzenden Werke oder Autoren aus?
An der recht umfassenden Anthologie rumänischer Gegenwartspoesie „Schwebebrücken aus Papier – 36 rumänische Lyriker“ für einen Berliner Verlag; sie wird noch in diesem Jahr erscheinen. Es sind die „großen Namen“ unter den Lebenden in diesem Bereich, einzelne aufzählen möchte ich hier nicht; etwa zwei Drittel von ihnen haben den wichtigen Eminescu-Preis für ihre Gedichte bekommen, ein weiteres Drittel sind meine persönlichen Vorlieben, die mich durch Frische und Originalität überrascht und überzeugt haben.
— Wie würden Sie die Rolle des Übersetzers beschreiben? Worin sehen Sie den Unterschied zwischen Dichten und Nachdichten?
Sie lässt sich nicht definieren, nur be- oder umschreiben: wenn die Stimmung, die Atmosphäre in der Zielsprache angekommen ist, hat die Übersetzung geklappt. Als transportierte man sensibles, verletzliches Gut über einen reißenden Fluss – und es kommt fast unversehrt am anderen Ufer an.
— Sie haben nicht nur die Erfahrung des Übersetzens, sondern auch die des Übersetztwerdens. Ihre Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Rumänische, Französische, Ungarische und Englische. Was für ein Erlebnis ist, wenn Sie die eigenen Gedichte in einer Zielsprache lesen, die Sie verstehen? Wenn Sie dasselbe Gedicht in zwei Sprachen lesen können?
Überaus gern lese ich meine Texte in anderen Sprachen, sogar auch, wenn ich diese nur unzulänglich beherrsche, wie z. B. das Französische oder das Ungarische: es ist, als würde man sich in überraschend neuem Gewand wiederfinden, das einen auf eine ganz unerwartete Weise zeigt – oder Eigenheiten hervorhebt, die man allein nicht an sich entdeckt hätte. Die Persönlichkeit des Übersetzers/der Übersetzerin spielt dabei die Hauptrolle – sie ist der des Dichters/der Dichterin in jeder Hinsicht ebenbürtig.
— Sie sind mehrfach preisgekrönt, Mitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, der Künstlergilde Esslingen sowie Generalsekretär des Exil-P.E.N. deutschsprachiger Länder seit 2014. Sie haben zugleich ständigen Kontakt mit den rumäniendeutschen Autoren und sind mit Ihren Publikationen, Lesungen im hiesigen deutschsprachigen Literaturleben präsent. Auf Ihre Anregung wurde der Gedächtnispreis „Rolf Bossert" ins Leben gerufen. Würden Sie uns etwas darüber erzählen?
Rolf war und bleibt für mich der originellste deutsche Lyriker aus Rumänien. Fast wäre er vergessen worden. Wir waren recht gut miteinander befreundet und geistig verwandt, haben einander oft ge- und besucht. Der auf meine Anregung hin von einer Initiativgruppe ins Leben gerufene Preis stemmt sich erfolgreich gegen diesen Furor des Vergessens.
— Wie bekannt, es existiert keine einheitliche sprachliche Norm innerhalb einer Sprache. Die nach Deutschland ausgewanderten Rumäniendeutsche nehmen sicher das Anderssein in der Kommunikation, in der verwendeten Sprache wahr. Wie erlebten Sie diese Unterschiedlichkeit, Andersartigkeit?
Die rumäniendeutsche Literatur ist als eine von vieren unwiderruflich im deutschen Sprachraum angekommen und wird als solche wahr- und ernstgenommen. In der beruflichen Praxis bedeutet das für viele der Literaten trotzdem ein Nischendasein, eine eingeschränkte öffentliche Wahrnehmung. Als Lyriker hat er gleich ein doppeltes Handicap zu überwinden: das der bei den Verlagen ungeliebten, weil schwerverkäuflichen Gattung – und das einer mit zahlreichen negativen Vorurteilen behafteten Herkunft. Allerdings schwindet die Wichtigkeit der Provenienz mit der Zeit, wie auch die Bedeutung von „Heimat“: jede(r) trägt sie in und mit sich.