So werden die Arbeiten unserer Mitglieder rezensiert:
Prof. Dr. Wolfgang Schlott
Tatjana Kuschtewskaja. Die Mäzenin Tschaikowskis. Obsession und Leidenschaft. Aus dem Russischen von Susanne Rödel und Steffi Lunau (4. Kapitel). Berlin (Edition Noack&Block) 2022, 240 S., 24.- EURO, ISBN 978-3-86813-150-5
Im kollektiven Bewusstsein der sowjetischen Gesellschaft war sie bis in die 1960er Jahre eine persona non grata. Lediglich Kennern der Biografie von Piotr Iljitsch Tschaikowski erwies sie sich als eine Mäzenin, die die künstlerische Karriere des weltberühmten Komponisten auf eine selbstlose, wenn nicht gar sich selbst verleugnende Weise gefördert hat. Baronin Nadeschda Filaterowna von Meck, Ehefrau des baltendeutschen Eisenbahn-Unternehmers Karl von Meck, Mutter von elf Kindern, bildete für den Kompositionslehrer und Komponisten Tschaikowski, den sie zwischen 1877 und 1890 mit beträchtlichen Geldspenden „über Wasser hielt“ und ihm damit auch seine bis dahin vernachlässigte kompositionelle Tätigkeit absicherte. Dieser außergewöhnlichen Frau, die nach dem frühen Tod ihres Ehemanns über ein beträchtliches Vermögen verfügte, widmet Tatjana Kuschtewskaja ihren Roman. Er besteht aus fünf Kapiteln, einem Vorwort und einem Nachwort der Autorin, in dem sie sich über ihre eigenen Berufswünsche, ihre erfolgreiche Berufstätigkeit in vielen Regionen der Sowjetunion und ihre langjährige Mäzen-Tätigkeit auch zum Wohl der jungen ukrainischen Literatur äußert. Wie im Untertitel ihres Romans in den Begriffen ‚Obsession‘ und ‚Leidenschaft‘ bereits thematisiert, verbindet die Autorin ihr hoch aufgeladenes Thema aus dem diskreten persönlichen Bereich eines Jahrhundert-Genies mit dessen künstlerischer Tätigkeit. Dieses Sujet ist in den vergangenen hundert Jahren immer wieder auch der Gegenstand von teilweise spektakulärer Forschung gewesen. Im Gegensatz zu dieser auf schriftlichen Quellen beruhenden Aussagen bemüht sich die Autorin - auch im Hinblick auf die immer wieder thematisierte homosexuelle Neigung des Komponisten – um ein breiteres Feld von Aussagen. Oft ausgehend von Auszügen aus den insgesamt 1200 Briefen, die sich Nadeschda und Piotr Iljitsch in den vierzehn Jahren zuschickten, nimmt sie die dort beschriebenen Situationen zum Anlass, eine Reihe von Szenen aus dem Alltag der Baronin mit ihren Worten auszumalen. Auf diese Weise entsteht für den Leser ein anschauliches Bild von dem Alltag einer Mäzenin, die 1890 vermutlich selbst in pekuniäre Zwänge geriet und ihre Förderung für das angebetete Genie abbrechen musste. Auch anderen rätselhaften Dingen im Alltag ihrer Mäzenin geht sie nach, wenn sie z.B. den Alltag eines der Söhne von Nadeschda, Wladimir Karlowitsch von Meck, beschreibt, indem sie fiktive Dialoge in ihren biografischen Text einbaut. Leider kann der fachlich interessierte Leser die Authentizität solcher Abläufe nicht überprüfen, da mit Ausnahme der zitierte Briefpassagen die Autorin – nicht zuletzt aufgrund ihrer oft mitfühlenden, leidenschaftlichen ergänzenden Kommentare – meist keine Quellenangaben macht. Eine kritische Anmerkung, die nicht die meist spannenden Handlungsstränge und die folgerichtige Struktur des Romans - mit journalistischem Charakter - über die Mäzenin betrifft.
Der Roman setzt ein mit der Darstellung der spannungsgeladenen Lebensgeschichte des Ingenieurs und Eisenbahn-Managers Karl Fjodorowisch von Meck, der im Alter von 54 Jahren stirbt und seiner Witwe ein beträchtliches Vermögen hinterlässt. Im Übergang zu Kapitel II beschreibt die Autorin die wichtigsten Moskauer Lokalitäten und mondänen Orte, an denen Nadeschda Filaterowna von Meck lebte und hofierte, bevor sie im Alter von 58 Jahren beinahe zufällig durch Vermittlung des Musikers Nikolai Rubinstein von dem Kompositionslehrer und Komponisten Tschaikowski hört. Er benötige brauche dringend finanzielle Hilfe, um in Ruhe seinen kompositionellen Plänen nachgehen zu können. Die nun folgende Beschreibung der Briefinhalte mit einer Reihe von teilweise authentischen Auszügen, teilweise kommentierten Briefen vermittelt ein plastisches, mitfühlendes Bild einer Beziehungsgeschichte, die aus einer hingebungsvollen, mitfühlenden Mäzenin und einem immer wieder dankbaren Pjotr Iljitsch besteht, der auf der Grundlage der mehr als 6000 Rubel jährlich überwiesenen nun existentiell abgesichert seinen Kompositionsaufgaben nachgehen konnte. Dass die beiden sich nur dreimal in diesen vier Jahren zufällig sahen, ohne dass sie ein persönliches Gespräch geführt haben, dass die Mäzenin „ihrem“ Pjotr Iljitsch liebevolle Briefe schickte, die Tschaikowski in der Regel mit dem Ausdruck der größten Dankbarkeit erwiderte, dass Nadeschda Filaretowna sehr oft die Reisen des berühmten Komponisten nach Westeuropa mit der Reservierung von Hotelzimmern und Villen vorbereitete, all diese Mäzenatinnen-Dienste kommentiert und beschreibt Tatjana Kuschtewskaja mit inniger Hingabe, so als ob sie selbst Augenzeugin dieser außerordentlichen Beziehung war. Diese Verinnerlichung der Beobachterrolle geht so weit, dass sie auch mal ihre eigenen Träume auf dem Wege zu einer professionellen Musikerin in das zweite Kapitel einflechtet (vgl. S. 125f.) oder sogar die dramatische Sitzung der Mäzenin mit ihrer engsten Verwandtschaft mit bewegenden Worten nachempfindet (S. 160f.).
Die beiden abschließenden Kapitel sind der kurzen, tragischen Ehe von Pjotr Iljitsch und Antonina Tschaikowskja (Miljutowa) und der nicht minder traurigen Endphase des Briefwechsels zwischen der Mäzenin von Meck und Pjotr Iljitsch gewidmet. Vor allem das vierte Kapitel, das sich auf kommentierte Quellen beruft, zeichnet sich durch eine leidenschaftliche Beschreibung der unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Pjotr Iljitsch und Antonina aus. Auf diese Weise erhält der Leser einen Einblick in ein Ehedrama, unter dem vor allem Tschajkowskis Witwe litt. Sie starb 1917 nach langer Krankheit in einer Nervenheilanstalt.
Es gehört zu den besonderen Vorzügen der musikalisch so einfühlsamen Publikation über das Leben und Leiden des berühmten Komponisten, dass Tatjana Kuschtewskaja ihre persönlichen, leidenschaftlichen Empfindungen mit einer Fülle von Ereignissen so verbindet, dass der Leser die Geschichte eines ungewöhnlichen Mäzenatentums mit viel Empathie nachvollziehen kann. Aufgrund der ausgedruckten persönlichen Briefe der Autorin (Aus dem blauen Heft) wird ihm außerdem die Gelegenheit geboten, einen Einblick in die Komposition eines Romans zu werfen, in dem die tragische Verflechtung von historisch verbürgtem Mäzenatentum und außergewöhnlicher Aufopferung und Hingabe auf die Freuden und Bemühungen um das Mäzenatentum der Autorin übertragen wird.
Ich bin viele. Frauenstimmen aus Georgien. Gedichte. Herausgegeben von Manana Tandaschwili und Irma Schiolaschwili. Aus dem Georgischen übersetzt von Irma Schiolaschwili. Nachgedichtet von Sabine Schiffner. Ludwigsburg (Pop Verlag) 2018. 102 S., 16,50 €. ISBN 978-3-386356-230-4. (Kaukasische Bibliothek, Bd. 24. Georgien).
Dreißig Gedichte aus der Feder von zwölf georgischen Lyrikerinnen, herausgegeben und aus der Originalsprache übertragen von zwei in der Bundesrepublik lebenden georgischen Literaturwissenschaftlerinnen, nachgedichtet von einer aus Bremen stammenden Dichterin und Übersetzerin. Es ist ein gemeinsames georgisch-deutsches Projekt, eine Buchpublikation, die schon beim ersten Blick auf die fotografischen Porträts und die zweisprachigen Namensnennungen auf der Vorder- und Rückseite des Paperback-Umschlags überzeugt. Diese Dichterinnen, schreibt dort Sabine Schiffner, greifen das Genderthema deshalb so oft und intensiv auf, „weil in ihrem Land noch viel weniger als hierzulande eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau herrscht.“
Und in diese Wertung eingeweiht wirft der Rezensent zunächst einen vergleichenden Blick auf die Bio-Bibliographien der Autorinnen, die zwischen Mitte Dreißig und sechzig Jahre alt sind, und fast alle eine ansehnliche Liste an in- und ausländischen Publikationen aufweisen, eine Reihe von Literaturpreisen erhalten haben, als Herausgeberinnen von Kulturzeitschriften, Filmkritikerinnen oder Redakteurinnen bei Rundfunk und Fernsehen arbeiten. Aufgrund dieser Informationen und des überwiegend akademischen Hintergrunds der von den beiden Herausgeberinnen ausgewählten Autorinnen ist anzunehmen, dass in diesem Gedichtband sich die renommierte weibliche Elite der Republik Georgien artikuliert, eine Auswahl, die ihre Objektivität auch dadurch gewonnen hat, weil ihre beiden georgischen Herausgeberinnen seit längerer Zeit in Deutschland leben.
Wer sich einen raschen Überblick über die poetischen Verfahren, die Thematik der Gedichte und deren soziale Relevanz verschaffen will, der könnte sich in das Nachwort von Sabine Schiffner vertiefen. Doch wer einen poetisch relevanten Einblick in die Gedichte gewinnen will, der sollte die einfühlsam nachgedichteten Texte laut lesen, von den ironischen und sarkastisch-bitteren Versen aus der Feder von Nana Kobidze bis zu den phantasiegeladenen, psychologisch fundierten Gedichten von Lela Zuzkiridze. Er wird gleichsam gebannt sein, hingerissen von der Mischung aus Lebensklugheit, Phantasiegeladenheit, Ironie, Fähigkeiten zur Metamorphose, Flexibilität, poetologischer Raffinesse, Gender betonter Positionen und mancher anderer Eigenschaften. Geben wir einige Beispiele, um diesen poetischen Cocktail zu genießen. Bei Nana Akobidze („Haare und das Ertragen der Liebe“ heißt es: „Wenn in mir die Liebe auflodert, / schneide ich meine Haare ab / und bete vor dem Spiegel das Gebet meiner Oma: / ‚Du Liebe, die heiß in mir brennt, /trenne dich von dieser Nana / und vereine dich mit einer anderen Nana!“’ (S. 9). Bei Kato Dschawachischwili lesen wir in „Wir haben etwas mitzuteilen“: „Wir sind als Mädchen geboren./ Das wollten wir nicht, aber wir waren auch nicht dagegen, / weil wir keine Ahnung hatten. /Wir tragen die nackte Freiheit der Weibchen,/ unser Leben haben wir als Vorschuß gegeben / für unsere Männer …“ (S. 13). Das in solchen Versen angedeutete machohafte, tumbe Verhalten von Männern verstärkt sich in den folgenden Texten. Eka Kevanischwili, Journalistin bei Radio Free Europe in Tiflis, spricht es in „Der letzte Kreis“ unverhohlen aus: „ Mein Mann kommt vom Dorf, seine Worte schaukeln vor Dialekt – „ was er weiß und was er gehört hat, /was er bis jetzt im Kopf behalten hat: Mein Leben, meine Frau, mein Mädchen. / Seine Hände sind breit und nach Erde riechend, / sein Gehirn ist leer und leicht.“ (S. 37). Wie die meisten der aus Tiflis stammenden Autorinnen hat auch Nino Sadghobelaschwili (Jg. 1980) mehrere berufliche Qualifikationen erworben. In ihrem Poem „Felsen“, einer metaphernreichen Verquickung von Natur, Mensch als Inbegriff der weiblichen Gestaltungskraft und schwesterlichen Symbiose, gelingt ihr eine tiefgreifende Evolution familiärer Beziehungen. Die aus Gori stammende Nena Samniaschwili, Doktorin der Pädagogik, entwirft in ihrem witzigen Gedicht „DichterIN“ ein Froschweibchen in der Verkörperung einer Krone tragenden Märchenfigur. Sie verwandelt sich allerdings nicht in den (erwarteten) Prinzen, sondern in einen Frosch „egal ob weiblich oder männlich/ ein Frosch braucht eine starke Stimme, damit er das Quaken der anderen übertönt, / damit er den süßen Sumpf lautstark lobt…“. (S. 61). Und welche Rolle spielen Kinder in der weiblichen Imagination? Die erfolgreiche Kinderbuchautorin und Lyrikerin Mariam Ziklauri spricht in ihrem Gedicht „Was sollen wir unseren Kindern sagen?“ davon, „dass wir im Himmel Gott nicht fanden / Und auf der Erde kein Zuhause.“ Und unter Verweis auf den bitteren Krieg gegen Russland (2008), der vergeblichen Suche nach Liebe, empfiehlt sie den Müttern Georgiens “Gebäret selber Gott, / der so groß sein wird wie ihr / und euch Erschöpften besser zur Seit stehen wird.“ (S. 86).
Es ist eine Fülle von poetisch aufgeladenen Reflexionen, die in dieser Anthologie versammelt sind. Sie reichen von fundierter Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen in Georgien, ironisch und sarkastisch verdichteten Aussagen über das machohafte Verhalten der georgischen Männer, die ihre russisch und kaukasisch erworbene Herrschsucht nicht ablegen wollen, bis zu den intellektuell verdichteten Klagen über das offensichtliche Missverhältnis zwischen Frauen und Männern. Es ist eine geballte Ladung also an offener Empörung, spitzfindigem Witz und subtiler Betrachtung einer Kluft, die sich nach langjähriger Unterdrückung von freier Meinungsäußerung in aller Deutlichkeit zeigt. Ob diese Offenbarungen allerdings zu notwendigen Korrekturen an den mißlichen Zuständen beitragen werden, hängt nicht nur von dem Erfolg der weiblicher Emanzipationsbestrebungen in ganz Europa und weltweit ab. Seine wirksame Umsetzung dient zweifellos auch dem Überleben der Menschheit. Der vorliegende Gedichtband mit den sehr gelungenen Nachdichtungen von Sabine Schaffner kann sicherlich einer solch kühnen Zielstellung bestimmte Impulse geben, wenn gleich sie aus einer kleinen, aufstrebenden Republik am Südrand des Kaukasus kommen!
Wolfgang Schlott
Der vielfach preisgekrönte, aus dem siebenbürgischen Reps stammende, heute in Backnang/Deutschland lebende Dichter, Prosaautor, Essayist, Übersetzer und Literaturkritiker Hellmut Seiler legte 2018 den neuen Gedichtband Dieser trotzigen Ruhe Weg vor. Der 1984 mit dem Adam-Müller-Guttenbrunn-Preis, 1998 mit dem Preis für Prosa, 1999 mit dem Literaturpreis der Künstlergilde Esslingen für Lyrik, 2000 mit dem Würth-Literatur-Preis der Tübinger Poetik- Dozentur, 2002 mit den Reinheimer Satirelöwen und 2003 mit dem Hauptpreis des Irseer Pegasus ausgezeichnete Autor überrascht auch diesmal mit seinen inspirierten, doppelbödigen Versen, hinter denen sich eine tiefere Bedeutung versteckt. Es sind Verse aus der Hand eines erfahrenen Germanisten und langjährigen Lehrers, der mit der Sprache überaus gern experimentiert. Man kann behaupten, das Wortspiel ist seine zweite Natur, es ist so selbstverständlich wie das Atmen.
Der Band ist in fünf Kapitel eingeteilt: I. Im kahlen Garten, II. Traumbrecher, III. Zur Kenntlichkeit verzerrt, IV. Gnomen und Gedankensplitter, V. Aus der intimen Tiefe der Zeit. Ein Vorwort zum Autor und zum Zeichner Gert Fabritius sowie ein von Rolf Stolz gezeichnetes Nachwort (S. 137-141) ergänzen den Band, der in der Roten Reihe Lyrik Nr. 5 innerhalb der Edition Bärenklau, Bärenklau 2017, erschienen ist.
Den „seilerschen“ Stil würde ich durch Mehrdeutigkeit im Umgang mit der Sprache charakterisieren. Er ist ein Meister der Assoziationen auf lexikalischer Ebene, der ironisch eingebauten Redewendungen und Zitate, der Verballhornungen und Wortspiele aller Art, der aphoristisch zugespitzten, meistens mit einer Pointe endenden Texte. Das Gedicht WortSchatz (S. 30) ist eine Probe aufs Exempel. :
Du bist das Für
zu mir als Wider,
der Bezug zu mir
als deiner Bestimmung.
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Wort zu meinem Geschlecht, Blüte zu meinem Stil
und die Antwort auf mich als rhetorische Frage.
Die Laute zu meiner Malerei. Bilder, die Vergleiche einfärben. Das Schön zu meiner Färberei. Und ein Wörtchen zu meinem
Ein anderes Beispiel, aus dem Seilers Sprachgefühl und sein Hang zum Wortspiel deutlich werden, ist das Gedicht Zeichen setzen (S. 31):
Ich wäre lieber eine Frage als ein Ausruf, ein Zeichen für Trennung lieber
als eines für Anführung.
Keine runde, lieber
eine eckige Klammer, kein Strich sondern ein Gedanke.
Niemals ein Komma unter vielen. Statt eines Doppelpunkts
lieber ein Punkt
Seiler ringt stets um Formvollendung, damit seine Botschaft so klar wie möglich den Lesenden erreicht, wie im Gedicht Beim Beobachten einer Leserin (S. 36):
Fertig ist das Gedicht, endlich vollendet: die Botschaft ist klar, der Rhythmus stimmt, der Wohlklang wäre nicht zu überhören [...]
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Ihn beschäftigt die Frage: Was ist Normalität? Normalität in der Liebe, in der Welt, in der Sprache, in der Politik. Und wie kann man sich von der Normalität loslösen? Wie kann man Wunden heilen, Übel stoppen, Trennung und Einsamkeit überwinden? Ernsthaft mit den Worten spielen lässt an Friedrich Schiller denken, von dem das Zitat stammt: „Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Spiel und Ernst, S. 47).
Einflüsse von Arno Holz sind in dem Gedicht Schattenriss (S. 26) nachzuempfinden, aus dem ersichtlich wird, dass Seiler Wortfolge und Rhythmus genauso wichtig sind wie dem die Lyrik revolutionierenden naturalistischen Dichter seinerzeit:
Im Dunkeln tappt der Poet, sagt mein Jüngster [...].
Um dieser Wortfolge willen liebe ich ihn.
Er hat schließlich
nicht gesagt:
Der Poet tappt im Dunkeln.
Dass Arno Holz für die experimentelle Schreibweise Seilers vorbildhaft ist, geht auch aus dem Gedicht Im Tiergarten, Berlin, nach Arno Holz, zeitlich gesehen am 22. November 2014 (S. 128) hervor. Konstruktionen wie „pfropfenzieherartig ins Wasser gedreht“ oder „samtpfotene Lautlosigkeit“ erinnern an das Vokabular des Naturalisten und ein Satz wie „Ohrstöpselmusikliebhaber joggen“ an den Wortschatz der Jugendlichen von heute, der vielleicht in Anlehnung an den experimentierfreudigen Naturalisten, an den Autor des Kunstgesetzes und der mathematischen Formel Kunst=Natur-X entstand. Hellmut Seiler, dessen Gedicht wie bei dem Naturalisten Holz die formale Besonderheit der um eine Mittelachse zentrierten Verse aufweist, ist wie Phantasus ein moderner Dichter vom Scheitel bis zur Sohle. Der Vers der letzten Strophe „dieser trotzigen Ruhe Weg“ prägt den Titel des Gedichtbandes, der, ähnlich wie bei Holz, als Abbild der inneren und äußeren Realität zu lesen und zu verstehen ist.
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Auch ein Wort wie Blogsilvanien in dem Gedicht Neulich, beim Briefeschreiben (S. 23) zeugt davon, dass das sprachschöpferische Universum Seilers zwischen dem gewissen Transsilvanien, wo er das Tageslicht erblickte, und der ungewissen Chatwelt Blogsilvaniens pendelt.
Meiner Meinung nach gibt Seiler auch diesmal mit vielen seiner Gedichte kluge und originelle Antworten auf brisante Fragen des kleinen Mannes und der Menschheit im Allgemeinen, sei es in Sachen Politik oder Gesellschaft, sei es in Sachen Liebe oder Literatur. Die Erklärung dafür ist, dass er mit einer Leichtigkeit für das Wortspiel begnadet ist und dass ihm subtile intertextuelle Vorgriffe gelingen, dass die Lektüre seiner Texte Denkanstoß sowie Genuss auslösen kann. Als Deutsch- und Englischlehrer ist er ein guter Kenner der deutschen und englischen Literatur, ist in einem mehrsprachigen Gebiet in Siebenbürgen aufgewachsen, spricht mehrere Sprachen, übersetzt viel. Seine Gedichte entstehen demnach auch als Ergebnis seiner Lektüren. Er webt in seine aphoristischen Texte Bruchstücke von Versen bekannter deutscher Dichter hinein, aktualisiert und spitzt ihre Botschaften zu (Ade, Winter von 2003 nach Hoffmann von Fallersleben, S. 119) oder widmet seine Gedichte deutschen Dichtern wie Rainer Kunze (Aufmunterung 2, S. 58), Wolfgang Schlott (Die gerettete Heimatzunge, S. 60f.), Hans Bergel (Die Schreibmaschine, S. 62f.).
Charakteristisch für die „engagierte Subjektivität“, die in Rumänien von Richard Wagner, Franz Hodjak, Werner Söllner, Rolf Bossert, Johann Lippet, William Totok, Horst Samson, aber auch von Hellmut Seiler vertreten wird, waren vor allem lange Texte, die, um Peter Motzan zu zitieren, dem Prinzip kalkulierter Lässigkeit gehorchen, jeden Strukturzwang von sich weisen und schon dadurch Widerstand leisten gegen den Kanon präskriptiver Normen, sodass Schreiben zu einem Akt störrischer Selbstbehauptung, zu einem Medium der Selbstvergewisserung wird. Engagement wird durch das unbeschönigte Aufschreiben, was den Autoren in der verwalteten Welt widerfährt, verbürgt, so Peter Motzan.
Was Seiler mit den Dichterkollegen seiner Generation gemeinsam hat und was ihn von ihnen unterscheidet, das ist der konsequente Hang zum Witz, der einem einfallsreichen Wortspiel entspringt. Wortspiele sind die Grundlage für Witze und Anekdoten. Jedes Wortspiel ist aus der Sicht der Norm ein Fehler. Aber es ist ein Fehler mit Sinn, wie der Sprachforscher Franz Josef Hausmann meint. Im schwachen Wortspiel ist es der Sinn einer rein sprachlichen Logik. Im guten Wortspiel ist die sprachliche Logik Ausdruck einer aktuell sinnvollen oder vom Autor für sinnvoll gehaltenen sachlichen Beziehung. In diesem Fall mag das Wortspiel Mittel der Sprachmagie sein. Da es aber gleichzeitig auch die semasiologische Ökonomie der Sprache als
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sprachliche Unzulänglichkeit, Mangel, Quelle der Missverständnisse aufdeckt, ist es ebenso sprachkritisch wie sprachmagisch, so Hausmann.
Beim näheren Betrachten der Gedichte Seilers stellt man fest, dass fast kein Reim vorhanden ist, die Gedichte aber eine durchdachte Struktur und einen eigenartigen Klang aufweisen. Oft werden Alliterationen verwendet, die einen komischen Effekt hervorrufen wie in dem Gedichttitel Verfolgte verfolgen Verfolger (S. 117) oder in dem Gedicht Der liebe Gott (S. 77): „Verwest, verwüst, vererdet / so findet er uns / immer wieder“. Auch kommen in den Texten Neubildungen oder Kontaminationen vor. Erwähnenswert sind die in Wörterbüchern nicht anzutreffenden Komposita. Paronomasien, d. h. rhetorische Figuren der Wiederholung durch Koppelung klangähnlicher, etymologisch und semantisch unterschiedlicher Wörter, sind keine Seltenheit. Der permanente Hang des Dichters zum Wortspiel äußert sich nicht nur im Einsetzen von Klangähnlichkeiten, sondern auch in der Bildung ausgefallener Konnotationen (Welch ein Gewitter, S. 108):
Früher haben die Jungs ihre Chance bei den Mädels gewittert.
Heutzutage twittern sie sie.
Das sind erneut Beweise dafür, dass Seiler den spielerischen Umgang mit der Sprache sehr gut beherrscht, das Talent besitzt, seine Wortschöpfungen satirisch zu nutzen (siehe Auf den ersten, S. 73):
Meinen Mann habe ich
im Internet kennengelernt.
Es war Liebe
auf den ersten Click.
Seiler versteht es, ganze Wörter oder Endungen ineinander zu schieben und zu verdrehen, als würde er die Grenzen der Sprache ausprobieren wollen. Das Spiel mit Varianten, das Tätigen von
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Sprüngen, Mäandern und Würfen im Satz, Spiralen auf eine Pointe zu – das sind nur einige Aspekte des stets grüblerischen, zweifelnden, alles in Frage stellenden Dichters Hellmut Seiler. Ein Beispiel dafür wären die Redensunarten (S. 99). Sein Ziel ist es, die komplizierten Dinge auf das Wesentliche zu vereinfachen, nicht demagogisch und katzbuckelnd, sondern direkt und offen zu sein, wie in dem Gedicht Sitzungsmania (S. 105):
Sieg des Hinterns über den Geist!
Ohne mich
wäre es nicht nur einer weniger,
sondern gar keine: es gäbe niemand, dies festzustellen.
Den Sinn für die alltäglichen Lappalien und den kleinen Menschen, für das knappe und ausdrucksvolle Formulieren, für das Wesentliche und Bleibende drückt er in vielen Gedichten aus, beispielsweise in Lehrerzimmer (S. 93):
Ein Zimmer voller Lehrer: Ein leerer‘ Zimmer
sah ich nie.
In den Gedichten steckt eine Art Befreiung von jeder Einengung, eine Art Ent-Grenzung. Die Verunsicherungspolitik und die Bespitzelungsmanöver, die Seiler vor der Auswanderung hautnah erlebte, sind zwischen den Zeilen zu lesen. Die Verlogenheit und die scheinheilige Moral der Menschen in Zeiten der Diktatur, die eigene Erfahrung mit den raffinierten Techniken und Strategien der Überwachung sind den Versen zu entnehmen. In seinen lyrischen und epischen Texten nach der Auswanderung stellt Seiler ein besonderes Gespür für politische Systeme und Janusköpfigkeit unter Beweis. Das Gefühl und die Erfahrung der Grenze hatte er bereits vor der Auswanderung. Diese Erfahrung war ein ungewolltes Erlebnis, das zu seinem Schicksal wurde. Mit Pathos und Emphase darüber zu schreiben, wäre nicht typisch für Seiler. Stilistische Mittel wie Wortspiel und Ironie sind viel bessere Lösungen für einen Dichter, weil daraus unendlich
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geschöpft werden kann. Wortspiel und Ironie verhelfen dazu, Grenzen zu überschreiten. Diese Schreibtechnik kann auch als Suche nach der eigenen Identität gedeutet werden. Die Erfahrung der Auswanderung und die Doppelbödigkeit dieser Existenz lassen Seiler sich „an Verse heften“, die die Absurdität vieler Lebenssituationen und menschlicher Einrichtungen in einer bildhaften Sprache festhalten. Das Schreiben ist für Seiler nicht nur eine alte Leidenschaft, sondern auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung, denn Enteignung, Haft, werden in den Gedichten Mein Großvater und ich, I und II (S. 135f.) eindrucksvoll thematisiert. Aber alles geht weiter, immer weiter, wie es in dem Gedicht Toilettenpapierstreifen, Vögel (S. 116) heißt: „Die Wirklichkeit eine Strickleiter, / zur Kenntlichkeit verzerrt.“
Die Botschaft der Gedichte Seilers ist eine optimistische, Ressentiments sind darin nicht zu verspüren, denn, wie es im Gedicht Mein Großvater und ich I (S. 135) heißt:
Verstehen lässt sich das Leben nur rückwärts gelesen; leben aber muss man es vorwärts.
Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu