Prof. Dr. Wolfgang Schlott

Tatjana Kuschtewskaja. Die Mäzenin Tschaikowskis. Obsession und Leidenschaft. Aus dem Russischen von Susanne Rödel und Steffi Lunau (4. Kapitel). Berlin (Edition Noack&Block) 2022, 240 S., 24.- EURO, ISBN 978-3-86813-150-5

Im kollektiven Bewusstsein der sowjetischen Gesellschaft war sie bis in die 1960er Jahre eine persona non grata. Lediglich Kennern der Biografie von Piotr Iljitsch Tschaikowski erwies sie sich als eine Mäzenin, die die künstlerische Karriere des weltberühmten Komponisten auf eine selbstlose, wenn nicht gar sich selbst verleugnende Weise gefördert hat. Baronin Nadeschda Filaterowna von Meck, Ehefrau des baltendeutschen Eisenbahn-Unternehmers Karl von Meck, Mutter von elf Kindern, bildete für den Kompositionslehrer und Komponisten Tschaikowski, den sie zwischen 1877 und 1890 mit beträchtlichen Geldspenden „über Wasser hielt“ und ihm damit auch seine bis dahin vernachlässigte kompositionelle Tätigkeit absicherte. Dieser außergewöhnlichen Frau, die nach dem frühen Tod ihres Ehemanns über ein beträchtliches Vermögen verfügte, widmet Tatjana Kuschtewskaja ihren Roman. Er besteht aus fünf Kapiteln, einem Vorwort und einem Nachwort der Autorin, in dem sie sich über ihre eigenen Berufswünsche, ihre erfolgreiche Berufstätigkeit in vielen Regionen der Sowjetunion und ihre langjährige Mäzen-Tätigkeit auch zum Wohl der jungen ukrainischen Literatur äußert. Wie im Untertitel ihres Romans in den Begriffen ‚Obsession‘ und ‚Leidenschaft‘ bereits thematisiert, verbindet die Autorin ihr hoch aufgeladenes Thema aus dem diskreten persönlichen Bereich eines Jahrhundert-Genies mit dessen künstlerischer Tätigkeit. Dieses Sujet ist in den vergangenen hundert Jahren immer wieder auch der Gegenstand von teilweise spektakulärer Forschung gewesen. Im Gegensatz zu dieser auf schriftlichen Quellen beruhenden Aussagen bemüht sich die Autorin - auch im Hinblick auf die immer wieder thematisierte homosexuelle Neigung des Komponisten – um ein breiteres Feld von Aussagen. Oft ausgehend von Auszügen aus den insgesamt 1200 Briefen, die sich Nadeschda und Piotr Iljitsch in den vierzehn Jahren zuschickten, nimmt sie die dort beschriebenen Situationen zum Anlass, eine Reihe von Szenen aus dem Alltag der Baronin mit ihren Worten auszumalen. Auf diese Weise entsteht für den Leser ein anschauliches Bild von dem Alltag einer Mäzenin, die 1890 vermutlich selbst in pekuniäre Zwänge geriet und ihre Förderung für das angebetete Genie abbrechen musste. Auch anderen rätselhaften Dingen im Alltag ihrer Mäzenin geht sie nach, wenn sie z.B. den Alltag eines der Söhne von Nadeschda, Wladimir Karlowitsch von Meck, beschreibt, indem sie fiktive Dialoge in ihren biografischen Text einbaut. Leider kann der fachlich interessierte Leser die Authentizität solcher Abläufe nicht überprüfen, da mit Ausnahme der zitierte Briefpassagen die Autorin – nicht zuletzt aufgrund ihrer oft mitfühlenden, leidenschaftlichen ergänzenden Kommentare – meist keine Quellenangaben macht. Eine kritische Anmerkung, die nicht die meist spannenden Handlungsstränge und die folgerichtige Struktur des Romans - mit journalistischem Charakter - über die Mäzenin betrifft.
Der Roman setzt ein mit der Darstellung der spannungsgeladenen Lebensgeschichte des Ingenieurs und Eisenbahn-Managers Karl Fjodorowisch von Meck, der im Alter von 54 Jahren stirbt und seiner Witwe ein beträchtliches Vermögen hinterlässt. Im Übergang zu Kapitel II beschreibt die Autorin die wichtigsten Moskauer Lokalitäten und mondänen Orte, an denen Nadeschda Filaterowna von Meck lebte und hofierte, bevor sie im Alter von 58 Jahren beinahe zufällig durch Vermittlung des Musikers Nikolai Rubinstein von dem Kompositionslehrer und Komponisten Tschaikowski hört. Er benötige brauche dringend finanzielle Hilfe, um in Ruhe seinen kompositionellen Plänen nachgehen zu können. Die nun folgende Beschreibung der Briefinhalte mit einer Reihe von teilweise authentischen Auszügen, teilweise kommentierten Briefen vermittelt ein plastisches, mitfühlendes Bild einer Beziehungsgeschichte, die aus einer hingebungsvollen, mitfühlenden Mäzenin und einem immer wieder dankbaren Pjotr Iljitsch besteht, der auf der Grundlage der mehr als 6000 Rubel jährlich überwiesenen nun existentiell abgesichert seinen Kompositionsaufgaben nachgehen konnte. Dass die beiden sich nur dreimal in diesen vier Jahren zufällig sahen, ohne dass sie ein persönliches Gespräch geführt haben, dass die Mäzenin „ihrem“ Pjotr Iljitsch liebevolle Briefe schickte, die Tschaikowski in der Regel mit dem Ausdruck der größten Dankbarkeit erwiderte, dass Nadeschda Filaretowna sehr oft die Reisen des berühmten Komponisten nach Westeuropa mit der Reservierung von Hotelzimmern und Villen vorbereitete, all diese Mäzenatinnen-Dienste kommentiert und beschreibt Tatjana Kuschtewskaja mit inniger Hingabe, so als ob sie selbst Augenzeugin dieser außerordentlichen Beziehung war. Diese Verinnerlichung der Beobachterrolle geht so weit, dass sie auch mal ihre eigenen Träume auf dem Wege zu einer professionellen Musikerin in das zweite Kapitel einflechtet (vgl. S. 125f.) oder sogar die dramatische Sitzung der Mäzenin mit ihrer engsten Verwandtschaft mit bewegenden Worten nachempfindet (S. 160f.).
Die beiden abschließenden Kapitel sind der kurzen, tragischen Ehe von Pjotr Iljitsch und Antonina Tschaikowskja (Miljutowa) und der nicht minder traurigen Endphase des Briefwechsels zwischen der Mäzenin von Meck und Pjotr Iljitsch gewidmet. Vor allem das vierte Kapitel, das sich auf kommentierte Quellen beruft, zeichnet sich durch eine leidenschaftliche Beschreibung der unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Pjotr Iljitsch und Antonina aus. Auf diese Weise erhält der Leser einen Einblick in ein Ehedrama, unter dem vor allem Tschajkowskis Witwe litt. Sie starb 1917 nach langer Krankheit in einer Nervenheilanstalt.
Es gehört zu den besonderen Vorzügen der musikalisch so einfühlsamen Publikation über das Leben und Leiden des berühmten Komponisten, dass Tatjana Kuschtewskaja ihre persönlichen, leidenschaftlichen Empfindungen mit einer Fülle von Ereignissen so verbindet, dass der Leser die Geschichte eines ungewöhnlichen Mäzenatentums mit viel Empathie nachvollziehen kann. Aufgrund der ausgedruckten persönlichen Briefe der Autorin (Aus dem blauen Heft) wird ihm außerdem die Gelegenheit geboten, einen Einblick in die Komposition eines Romans zu werfen, in dem die tragische Verflechtung von historisch verbürgtem Mäzenatentum und außergewöhnlicher Aufopferung und Hingabe auf die Freuden und Bemühungen um das Mäzenatentum der Autorin übertragen wird.

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