Neue Gedichte von Ilse Hehn: Sandhimmel. Lyrik und Übermalungen
„Und ich jag voller Wut / den Krempel durch die Luft“

von Christina Rossi

Ilse Hehn hat vor einigen Monaten mit einem hochwertig gestalteten Gedichtband ihren Wechsel zu dem jungen, in Ulm ansässigen danube books Verlag vollzogen: Sandhimmel heißt das im Sommer dort entstandene Werk. Es vereint das Genre der Lyrik und das der bildenden Kunst auf eine selbst für Ilse Hehn – deren künstlerische Doppelprofession bereits in früheren Bänden zur Geltung kam – neuartige Weise. Mehr oder weniger bekannten Werken der Kunstgeschichte stellt die Dichterin eigene, alte wie neue Gedichte zur Seite – in der Intention, nicht über die Bilder, sondern gleichsam aus den Bildern heraus zu sprechen. „In den meisten Texten ist es die Person im Bild selbst“, so Hehn, „die über ihre Befindlichkeit oder eine Facette der Liebe reflektiert“. Überdies hat die studierte Kunstwissenschaftlerin Hehn die herangezogenen Kunstwerke selbst malerisch verfremdet. Dieser couragierte Zugang fügt den Werken neue Deutungsmuster hinzu und verstärkt nicht nur vorhandene. Und es sind es vor allem die frühen Gedichte aus ihrem Œuvre, die in diesem unerwarteten Wechselspiel mit den Bildern einen ungeahnten, neuen Resonanzraum erfahren.
„Die Liebe ist eine Portion Sand / ein Sandhimmel / aus Himmel gemacht / du kannst mich reinlegen“ heißt es im ersten, titelgebenden Gedicht. Die Liebe erscheint als Schlüsselmotiv des Bandes, wird jedoch nicht als gefühlsseliges Bild romantischer Beschwörung eingesetzt. Indem sie jenseits ihrer verlockenden Reize („süß und fruchtig / ihren Rost gefühlt in / meinem Hals und / zwischen den Schenkeln ihr / Pochen“) ebenso sehr auch als Bedrohung der eigenen Existenz begriffen wird („Dir / bleibt mein Körper meine Nacht / du wirst mir einen Strick draus drehen“) offenbart Hehn einen unbestechlichen Realismus, der immer die Distanz der Liebenden wahrt und einfordert und dies textuell auch in Form unharmonischer Gefüge spiegelt. Andere Gedichte setzen das Begehren als weitere Facette der Liebe und überzeugen mit ihrer sublimen, trockenen Erotik („Ich möchte dich lieben bei / offener Tür / und so dass draußen die Regenschirme / rot werden vor Scham“).
Sequenzen wie diese werden von leichtfüßig abgründigen Aphorismen abgelöst, die in zahlreichen weiteren Gedichten des Bandes in wohltuend unprätentiöser Weise existenzielle Augenblicke einfangen („Manchmal sterben wir eine Minute lang / in der Straßenbahn“). Es sind häufig Momente erfahrungsgesättigter Einsicht („Tja so ist das Leben / wir haben Gründe genug / baden zu gehen an unserem Laufsteg / an dieser verdammten Echoböschung“), die in poetische Formeln gegossen punktgenau treffen, ohne dabei pathetisch überhöht zu werden. Und nicht selten hat man beim Lesen das Gefühl: In diesen Texten ist kein Wort zu viel.
Die klar gesetzte Sprachführung, die poetische Potentiale zwischen den Zeilen und über die Zeilenränder hinaus immer wieder – aber nicht um jeden Preis – entdeckt und ausschöpft, verhilft dem Band mit einer ganzen Reihe von Gedichten zu beachtlichem Gewicht. Allen Gedichten dieses Bandes merkt man an, dass sie nicht aus dem luftleeren Raum heraus geschaffen sind. Sie entstammen erkennbar der Feder einer erfahrenen Dichterin und zeugen von deren Hingabe einem ganzen Leben gegenüber – in all seinen Dimensionen.
Am Motiv des Märchens, mit dem Hehn als junge Lyrikerin häufig anspielungsreich operierte, hat sie zu einem Esther-Portrait Lucian Freuds einen der stärksten Texte des Bandes geschaffen: „Springen wir durchs nächtliche Feuer / kerb ich kaum Narben dir ein / mein Haar mein Prinz ist kein Goldsee / mein Haar ist Falle kein Reim / hüllt morgens dich ein erwach ich / neben dir / denn dir gehört etwas mir alles / vor allem der Weg zu mir“. Das Gedicht zelebriert das Subjekt als ein zwingend in sich isoliertes – und bricht die Illusion eines jeden (hier auch des Märchenprinzen-)Klischees. Folgerichtig gerät der Rhythmus des Textes aus den Fugen, sobald der Reim sich selbst benennt. So mag es auch für die Liebe gelten.
Bei einer Zahl von 19 Buchveröffentlichungen bietet dieser zwölfte Gedichtband der Autorin mit seinen etwa 50 Gedichten einen großen Raum, in bisweilen nur wenigen Zeilen zahlreiche komplexe Gewebe und Geschichten auszuloten und sich in ihnen und dem Wechselspiel mit der Kunst zu verlieren. Denn in Ilse Hehns Gedichten realisiert sich im besten Sinne die Rolle der Dichtung nach Cocteau: „Sie nimmt den Schleier fort“.

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