Ursula Jetter, geb. Dilger: überleben: zu Aufzeichnungen aus einem sibirischen Gefangenenlager von Hans Dilger. Info Verlag GmbH (2018). Lindemanns Bibliothek, Bd. 319. ISBN 978-3-96308-016-6

Die Aufzeichnungen von Hans Dilger aus einem sibirischen Gefangenenlager, herausgegeben von Thomas Lindemann in Lindemanns Bibliothek, von seiner Tochter Ursula Jetter, geb. Dilger, mit einer kommentierenden Einleitung versehen, erweisen sich in mehrerer Hinsicht als ein ungewöhnlich bewegendes Dokument. Die fünfzehn Seiten umfassende Einleitung unter der Überschrift „Überleben“ enthält eine einfühlsame Beschreibung der Umstände, unter denen die rund vierzig Texte, handschriftlich mithilfe eines Federhalters und violettfarbiger Tinte, auf dunkelbraunes Packpapier aufgetragen, in die Hände von Ursula Jetter gelangt sind. Hans Dilger (1906-1984), verheiratet mit Gudrun Dilger, geb. Olson, Überlebender der Schlacht um Stalingrad, geriet in sowjetische Gefangenschaft. Aus sibirischen Kriegsgefangenenlagern, in denen er mehr als zehn Jahre verbrachte, kehrte er mit dem letzten Rücktransport deutscher Soldaten 1955 in die Bundesrepublik Deutschland zurück. In seinem Gepäck befanden sich, geschickt versteckt in seinem kärglichen Hab und Gut, Packpapierfetzen mit sorgfältig in Druckbuchstaben aufgetragenen Gedichten deutscher Poeten, Briefe biblischer Apostel, Minnelieder aus dem Born der deutschsprachigen Literatur, aber auch überraschenderweise ein übersetztes Gedicht des renommierten russischen Schriftstellers Konstantin Michajlowitsch Simonow (1915-1979). Das von Ursula Jetter in ihrer Einleitung zitierte Gedicht habe die Gefangenen, „wie man aus Briefen weiß“, am eindringlichsten bewegt. Simonows Gedicht, „eine flehende Bitte an die eigene Frau und Geliebte“ (S. 16), das Hans Dilger auf einen Packpapierfetzen in Druckschrift aufgeschrieben hatte und im Klartext in Ursula Jetters Einleitung nachzulesen ist, hätte sicherlich den Anlass für einen ergänzenden Kommentar geben können, um die mörderische Sinnlosigkeit von Kriegen und die Verurteilung ihrer Urheber deutlich hervorzuheben. Mehr noch, das Leiden beider Völker an der Massenvernichtung an den Fronten und in den anschließenden Gefangenenlagern zum Anlass für eine gemeinsame Ausgabe von Texten in deutscher und russischer Sprache zu nehmen. In diesem Falle würde ein solches, mit ähnlichen Materialien hergestelltes Büchlein nicht nur nach „Lederstiefeln, Schweiß, Fusel“ sondern auch nach Machorka und Filzstiefeln riechen. Und, es würde das „unbeirrbare Festhalten an den der Sprache innewohnenden … Kräften“ (S. 18) mit einer gemeinsamen sprachlichen Energie versehen werden, der Sprache von Rainer Maria Rilke, Johann Wolfgang von Goethe oder Gerhard Hauptmann wie auch von Alexander Puschkin, Konstantin Simonow oder Aleksander Solschenyzin.
Eine solche Publikation mit deutsch- und russischsprachigen Texten könnte durchaus eine therapeutische Funktion bei der Verhinderung von zukünftigen Kriegen spielen. Im Gedächtnis aber der den Zweiten Weltkrieg Überlebenden sollten diese flehenden Bekenntnisse halb verhungerter Gefangener auch für die nachfolgenden Generationen aufbewahrt bleiben. Sie wurden von einem Mitgefangenen aus dem Gedächtnis aufgezeichnet, mit List und Sorgfalt aufbewahrt und in manchen Abendstunden auf elenden Pritschen irgendwo in sibirischen Arbeitslagern vorgelesen. Dass sie der Nachwelt erhalten geblieben sind, dank der mitfühlenden Sorgfalt der Schriftstellerin und langjährigen Herausgeberin der Literaturzeitschrift „exempla“, Ursula Jetter, erweist sich als kleines Wunder. Auf jeden Fall gehört das sorgfältig gedruckte Büchlein zu den meist übersehenen Kostbarkeiten auf dem schier unüberschaubar gewordenen Büchermarkt.

Wolfgang Schlott, im Februar 2019

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