Der vielfach preisgekrönte, aus dem siebenbürgischen Reps stammende, heute in Backnang/Deutschland lebende Dichter, Prosaautor, Essayist, Übersetzer und Literaturkritiker Hellmut Seiler legte 2018 den neuen Gedichtband Dieser trotzigen Ruhe Weg vor. Der 1984 mit dem Adam-Müller-Guttenbrunn-Preis, 1998 mit dem Preis für Prosa, 1999 mit dem Literaturpreis der Künstlergilde Esslingen für Lyrik, 2000 mit dem Würth-Literatur-Preis der Tübinger Poetik- Dozentur, 2002 mit den Reinheimer Satirelöwen und 2003 mit dem Hauptpreis des Irseer Pegasus ausgezeichnete Autor überrascht auch diesmal mit seinen inspirierten, doppelbödigen Versen, hinter denen sich eine tiefere Bedeutung versteckt. Es sind Verse aus der Hand eines erfahrenen Germanisten und langjährigen Lehrers, der mit der Sprache überaus gern experimentiert. Man kann behaupten, das Wortspiel ist seine zweite Natur, es ist so selbstverständlich wie das Atmen.
Der Band ist in fünf Kapitel eingeteilt: I. Im kahlen Garten, II. Traumbrecher, III. Zur Kenntlichkeit verzerrt, IV. Gnomen und Gedankensplitter, V. Aus der intimen Tiefe der Zeit. Ein Vorwort zum Autor und zum Zeichner Gert Fabritius sowie ein von Rolf Stolz gezeichnetes Nachwort (S. 137-141) ergänzen den Band, der in der Roten Reihe Lyrik Nr. 5 innerhalb der Edition Bärenklau, Bärenklau 2017, erschienen ist.
Den „seilerschen“ Stil würde ich durch Mehrdeutigkeit im Umgang mit der Sprache charakterisieren. Er ist ein Meister der Assoziationen auf lexikalischer Ebene, der ironisch eingebauten Redewendungen und Zitate, der Verballhornungen und Wortspiele aller Art, der aphoristisch zugespitzten, meistens mit einer Pointe endenden Texte. Das Gedicht WortSchatz (S. 30) ist eine Probe aufs Exempel. :
Du bist das Für
zu mir als Wider,
der Bezug zu mir
als deiner Bestimmung.
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Wort zu meinem Geschlecht, Blüte zu meinem Stil
und die Antwort auf mich als rhetorische Frage.
Die Laute zu meiner Malerei. Bilder, die Vergleiche einfärben. Das Schön zu meiner Färberei. Und ein Wörtchen zu meinem
Ein anderes Beispiel, aus dem Seilers Sprachgefühl und sein Hang zum Wortspiel deutlich werden, ist das Gedicht Zeichen setzen (S. 31):
Ich wäre lieber eine Frage als ein Ausruf, ein Zeichen für Trennung lieber
als eines für Anführung.
Keine runde, lieber
eine eckige Klammer, kein Strich sondern ein Gedanke.
Niemals ein Komma unter vielen. Statt eines Doppelpunkts
lieber ein Punkt
Seiler ringt stets um Formvollendung, damit seine Botschaft so klar wie möglich den Lesenden erreicht, wie im Gedicht Beim Beobachten einer Leserin (S. 36):
Fertig ist das Gedicht, endlich vollendet: die Botschaft ist klar, der Rhythmus stimmt, der Wohlklang wäre nicht zu überhören [...]
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Ihn beschäftigt die Frage: Was ist Normalität? Normalität in der Liebe, in der Welt, in der Sprache, in der Politik. Und wie kann man sich von der Normalität loslösen? Wie kann man Wunden heilen, Übel stoppen, Trennung und Einsamkeit überwinden? Ernsthaft mit den Worten spielen lässt an Friedrich Schiller denken, von dem das Zitat stammt: „Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Spiel und Ernst, S. 47).
Einflüsse von Arno Holz sind in dem Gedicht Schattenriss (S. 26) nachzuempfinden, aus dem ersichtlich wird, dass Seiler Wortfolge und Rhythmus genauso wichtig sind wie dem die Lyrik revolutionierenden naturalistischen Dichter seinerzeit:
Im Dunkeln tappt der Poet, sagt mein Jüngster [...].
Um dieser Wortfolge willen liebe ich ihn.
Er hat schließlich
nicht gesagt:
Der Poet tappt im Dunkeln.
Dass Arno Holz für die experimentelle Schreibweise Seilers vorbildhaft ist, geht auch aus dem Gedicht Im Tiergarten, Berlin, nach Arno Holz, zeitlich gesehen am 22. November 2014 (S. 128) hervor. Konstruktionen wie „pfropfenzieherartig ins Wasser gedreht“ oder „samtpfotene Lautlosigkeit“ erinnern an das Vokabular des Naturalisten und ein Satz wie „Ohrstöpselmusikliebhaber joggen“ an den Wortschatz der Jugendlichen von heute, der vielleicht in Anlehnung an den experimentierfreudigen Naturalisten, an den Autor des Kunstgesetzes und der mathematischen Formel Kunst=Natur-X entstand. Hellmut Seiler, dessen Gedicht wie bei dem Naturalisten Holz die formale Besonderheit der um eine Mittelachse zentrierten Verse aufweist, ist wie Phantasus ein moderner Dichter vom Scheitel bis zur Sohle. Der Vers der letzten Strophe „dieser trotzigen Ruhe Weg“ prägt den Titel des Gedichtbandes, der, ähnlich wie bei Holz, als Abbild der inneren und äußeren Realität zu lesen und zu verstehen ist.
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Auch ein Wort wie Blogsilvanien in dem Gedicht Neulich, beim Briefeschreiben (S. 23) zeugt davon, dass das sprachschöpferische Universum Seilers zwischen dem gewissen Transsilvanien, wo er das Tageslicht erblickte, und der ungewissen Chatwelt Blogsilvaniens pendelt.
Meiner Meinung nach gibt Seiler auch diesmal mit vielen seiner Gedichte kluge und originelle Antworten auf brisante Fragen des kleinen Mannes und der Menschheit im Allgemeinen, sei es in Sachen Politik oder Gesellschaft, sei es in Sachen Liebe oder Literatur. Die Erklärung dafür ist, dass er mit einer Leichtigkeit für das Wortspiel begnadet ist und dass ihm subtile intertextuelle Vorgriffe gelingen, dass die Lektüre seiner Texte Denkanstoß sowie Genuss auslösen kann. Als Deutsch- und Englischlehrer ist er ein guter Kenner der deutschen und englischen Literatur, ist in einem mehrsprachigen Gebiet in Siebenbürgen aufgewachsen, spricht mehrere Sprachen, übersetzt viel. Seine Gedichte entstehen demnach auch als Ergebnis seiner Lektüren. Er webt in seine aphoristischen Texte Bruchstücke von Versen bekannter deutscher Dichter hinein, aktualisiert und spitzt ihre Botschaften zu (Ade, Winter von 2003 nach Hoffmann von Fallersleben, S. 119) oder widmet seine Gedichte deutschen Dichtern wie Rainer Kunze (Aufmunterung 2, S. 58), Wolfgang Schlott (Die gerettete Heimatzunge, S. 60f.), Hans Bergel (Die Schreibmaschine, S. 62f.).
Charakteristisch für die „engagierte Subjektivität“, die in Rumänien von Richard Wagner, Franz Hodjak, Werner Söllner, Rolf Bossert, Johann Lippet, William Totok, Horst Samson, aber auch von Hellmut Seiler vertreten wird, waren vor allem lange Texte, die, um Peter Motzan zu zitieren, dem Prinzip kalkulierter Lässigkeit gehorchen, jeden Strukturzwang von sich weisen und schon dadurch Widerstand leisten gegen den Kanon präskriptiver Normen, sodass Schreiben zu einem Akt störrischer Selbstbehauptung, zu einem Medium der Selbstvergewisserung wird. Engagement wird durch das unbeschönigte Aufschreiben, was den Autoren in der verwalteten Welt widerfährt, verbürgt, so Peter Motzan.
Was Seiler mit den Dichterkollegen seiner Generation gemeinsam hat und was ihn von ihnen unterscheidet, das ist der konsequente Hang zum Witz, der einem einfallsreichen Wortspiel entspringt. Wortspiele sind die Grundlage für Witze und Anekdoten. Jedes Wortspiel ist aus der Sicht der Norm ein Fehler. Aber es ist ein Fehler mit Sinn, wie der Sprachforscher Franz Josef Hausmann meint. Im schwachen Wortspiel ist es der Sinn einer rein sprachlichen Logik. Im guten Wortspiel ist die sprachliche Logik Ausdruck einer aktuell sinnvollen oder vom Autor für sinnvoll gehaltenen sachlichen Beziehung. In diesem Fall mag das Wortspiel Mittel der Sprachmagie sein. Da es aber gleichzeitig auch die semasiologische Ökonomie der Sprache als
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sprachliche Unzulänglichkeit, Mangel, Quelle der Missverständnisse aufdeckt, ist es ebenso sprachkritisch wie sprachmagisch, so Hausmann.
Beim näheren Betrachten der Gedichte Seilers stellt man fest, dass fast kein Reim vorhanden ist, die Gedichte aber eine durchdachte Struktur und einen eigenartigen Klang aufweisen. Oft werden Alliterationen verwendet, die einen komischen Effekt hervorrufen wie in dem Gedichttitel Verfolgte verfolgen Verfolger (S. 117) oder in dem Gedicht Der liebe Gott (S. 77): „Verwest, verwüst, vererdet / so findet er uns / immer wieder“. Auch kommen in den Texten Neubildungen oder Kontaminationen vor. Erwähnenswert sind die in Wörterbüchern nicht anzutreffenden Komposita. Paronomasien, d. h. rhetorische Figuren der Wiederholung durch Koppelung klangähnlicher, etymologisch und semantisch unterschiedlicher Wörter, sind keine Seltenheit. Der permanente Hang des Dichters zum Wortspiel äußert sich nicht nur im Einsetzen von Klangähnlichkeiten, sondern auch in der Bildung ausgefallener Konnotationen (Welch ein Gewitter, S. 108):
Früher haben die Jungs ihre Chance bei den Mädels gewittert.
Heutzutage twittern sie sie.
Das sind erneut Beweise dafür, dass Seiler den spielerischen Umgang mit der Sprache sehr gut beherrscht, das Talent besitzt, seine Wortschöpfungen satirisch zu nutzen (siehe Auf den ersten, S. 73):
Meinen Mann habe ich
im Internet kennengelernt.
Es war Liebe
auf den ersten Click.
Seiler versteht es, ganze Wörter oder Endungen ineinander zu schieben und zu verdrehen, als würde er die Grenzen der Sprache ausprobieren wollen. Das Spiel mit Varianten, das Tätigen von
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Sprüngen, Mäandern und Würfen im Satz, Spiralen auf eine Pointe zu – das sind nur einige Aspekte des stets grüblerischen, zweifelnden, alles in Frage stellenden Dichters Hellmut Seiler. Ein Beispiel dafür wären die Redensunarten (S. 99). Sein Ziel ist es, die komplizierten Dinge auf das Wesentliche zu vereinfachen, nicht demagogisch und katzbuckelnd, sondern direkt und offen zu sein, wie in dem Gedicht Sitzungsmania (S. 105):
Sieg des Hinterns über den Geist!
Ohne mich
wäre es nicht nur einer weniger,
sondern gar keine: es gäbe niemand, dies festzustellen.
Den Sinn für die alltäglichen Lappalien und den kleinen Menschen, für das knappe und ausdrucksvolle Formulieren, für das Wesentliche und Bleibende drückt er in vielen Gedichten aus, beispielsweise in Lehrerzimmer (S. 93):
Ein Zimmer voller Lehrer: Ein leerer‘ Zimmer
sah ich nie.
In den Gedichten steckt eine Art Befreiung von jeder Einengung, eine Art Ent-Grenzung. Die Verunsicherungspolitik und die Bespitzelungsmanöver, die Seiler vor der Auswanderung hautnah erlebte, sind zwischen den Zeilen zu lesen. Die Verlogenheit und die scheinheilige Moral der Menschen in Zeiten der Diktatur, die eigene Erfahrung mit den raffinierten Techniken und Strategien der Überwachung sind den Versen zu entnehmen. In seinen lyrischen und epischen Texten nach der Auswanderung stellt Seiler ein besonderes Gespür für politische Systeme und Janusköpfigkeit unter Beweis. Das Gefühl und die Erfahrung der Grenze hatte er bereits vor der Auswanderung. Diese Erfahrung war ein ungewolltes Erlebnis, das zu seinem Schicksal wurde. Mit Pathos und Emphase darüber zu schreiben, wäre nicht typisch für Seiler. Stilistische Mittel wie Wortspiel und Ironie sind viel bessere Lösungen für einen Dichter, weil daraus unendlich
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geschöpft werden kann. Wortspiel und Ironie verhelfen dazu, Grenzen zu überschreiten. Diese Schreibtechnik kann auch als Suche nach der eigenen Identität gedeutet werden. Die Erfahrung der Auswanderung und die Doppelbödigkeit dieser Existenz lassen Seiler sich „an Verse heften“, die die Absurdität vieler Lebenssituationen und menschlicher Einrichtungen in einer bildhaften Sprache festhalten. Das Schreiben ist für Seiler nicht nur eine alte Leidenschaft, sondern auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung, denn Enteignung, Haft, werden in den Gedichten Mein Großvater und ich, I und II (S. 135f.) eindrucksvoll thematisiert. Aber alles geht weiter, immer weiter, wie es in dem Gedicht Toilettenpapierstreifen, Vögel (S. 116) heißt: „Die Wirklichkeit eine Strickleiter, / zur Kenntlichkeit verzerrt.“
Die Botschaft der Gedichte Seilers ist eine optimistische, Ressentiments sind darin nicht zu verspüren, denn, wie es im Gedicht Mein Großvater und ich I (S. 135) heißt:
Verstehen lässt sich das Leben nur rückwärts gelesen; leben aber muss man es vorwärts.
Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu