Tagung des Exil-P.E.N. mit Hans Bergel
Prachtvolle Herbstfarben, jahrhundertealte Dörfer, dunkles Ackerland – die Landschaft zwischen Weißenfels und Leipzig wirkt idyllisch und etwas verschlafen, die wunderbare Ruhe stellt für den Reisenden einen willkommenen Kontrast zum sonst allgegenwärtigen urbanen Lärm dar. Reisende gibt es in Röcken viele – sie pilgern zum Geburtshaus, der Taufkirche und dem Grab von Friedrich Nietzsche. Hierher pilgerten Ende Oktober auch die Mitglieder des Exil-P.E.N., Zentrum der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Exil deutschsprachiger Länder e.V.
Friedrich Nietzsche (1844-1900) verbrachte in Röcken seine Kindheit und erinnerte sich auch später stets sehnsuchtsvoll an die glückliche, geschützte Zeit. Hier fand er seine letzte Ruhe, hier sind auch seine Eltern – der protestantische Pfarrer Karl Ludwig Nietzsche und dessen Frau Franziska – sowie seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche begraben. Heute erinnert ein kleines Museum an das Leben und Werk des Philosophen; unweit der alten Steinkirche steht die Skulpturengruppe „Röckener Bacchanal“ von Klaus Messerschmidt, die zum 150. Todestag von Friedrich Nietzsche realisiert wurde. Treibende Kraft vor Ort ist der Nietzsche Verein Röcken e.V., der neben der Pflege der Gedenkstätte auch Lesungen, Gesprächsrunden, literarische Wanderungen anbietet. Die unerwünschte Fußnote? Röcken ist vom Abriss bedroht. Ein Unternehmen ist schon länger an der Braunkohle unter Röcken interessiert, Probebohrungen wurden bereits durchgeführt, zudem könnte in der Gegend eine Mineralstoffdeponie entstehen. Nur mit großer Mühe gelang es einer Bürgerinitiative, die zerstörerischen Vorhaben zunächst zu stoppen. Auch in diesem Sinne, um ein Zeichen zu setzen, wählte der Exil-P.E.N. Röcken als Austragungsort seiner Jahrestagung. Der Verein wurde vor sechs Jahrzehnten gegründet und engagiert sich für „die Durchsetzung des freien Wortes“, so die Webseite www.exil-pen.de. Tagungen, Publikationen, Petitionen für verfolgte Schriftsteller und Journalisten, die Pflege internationaler Netzwerke und der Einsatz zum Schutz von Minderheiten stehen auf der Agenda des Vereins. Die Veranstaltung im Nietzsche-Geburtshaus wurde von Prof. Dr. Elmar Schenkel eröffnet, der den siebenbürgischen Lesern unter anderem als erster „Dorfschreiber von Katzendorf“ sowie als Autor des Buchs „Mein Jahr hinter den Wäldern“ (Connewitzer Verlagsanstalt, Leipzig, 2016) mit Aufzeichnungen aus Siebenbürgen bekannt sein oder werden dürfte. Gemeinsam mit Stefanie Jung, Leiterin des Nietzsche Vereins Röcken e.V., stellte er Nietzsche als vielseitige Persönlichkeit vor, über die bis heute lebendig und kontrovers diskutiert wird, und die eine große Bandbreite von Rezipienten aus allen Milieus und Regionen der Welt anspricht. So reisen nach Röcken Akademiker und Theologen, Zen-Meister, Schulklassen, Flüchtlinge, politisch Interessierte. „Man kann sich aus dem Steinbruch Nietzsche herausholen, was man will“, unterstrich Elmar Schenkel.
Der Schriftsteller Hans Bergel las am Grab von Friedrich Nietzsche. Foto: Christine ChiriacHauptgast der Tagung war der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger, Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland, Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Träger zahlreicher Literaturpreise. Er las aus seinem 2011 erschienenen Roman „Jáchymov“ (S. Fischer, Frankfurt am Main), in dem er sich eindrucksvoll mit den Abgründen der stalinistischen Ära in der Tschechoslowakei auseinandersetzt. Auch Mitglieder des Exil-P.E.N. stellten ihre jüngsten Veröffentlichungen vor: der siebenbürgische Schriftsteller Hans Bergel las aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, die unter dem Titel „Notizen eines Ruhelosen“ erschienen sind; der Dichter Frieder Schuller trug einige Gedichte aus dem frisch gedruckten Band „Die Angst der Parkbank vor dem Abendrot“ vor; zudem referierten Ursula Teicher-Maier („Kühe und Locken drehen“, 2015), Ilse Hehn („Tage Ost-West“, 2015) und Hella Schapiro (sie las aus dem Band ihres Mannes Boris Schapiro, „Die deutschen Rubayiat“). Ein heiteres Intermezzo war die Kritik des Comic-Bands „Nietzsche“ von Michel Onfray und Maximilien Le Roy (2011) durch den Präsidenten des Exil-P.E.N., Prof. Dr. Wolfgang Schlott. Vorgestellt wurde zudem die neue Exil-P.E.N.-Anthologie „Die Sehnsucht, die ist mir so leicht. Schreiben im Exil“, die in diesem Jahr im Pop Verlag Ludwigsburg veröffentlicht wurde. Die literarischen Beiträge aus rund zwanzig Heimatländern, verfasst in etwa einem Dutzend Muttersprachen, wurden von den Herausgebern Heidrun Hamersky, Ilse Hehn und Wolfgang Schlott ausgewählt, nach thematischen Schwerpunkten geordnet und redaktionell überprüft. Unter anderen gaben die anwesenden Autoren Timo Meškank und Kira Mantsu Kostproben aus ihren Texten in sorbischer bzw. aromunischer Sprache. Rührend war schließlich die Lesung am Grab von Friedrich Nietzsche, bei der neben den erwähnten Schriftstellern auch die rumäniendeutschen Autoren Horst Samson, Hellmut Seiler und Katharina Kilzer sowie die russische Schriftstellerin Tatjana Kuschtewskaja ihre Texte vortrugen. Im Herbstlicht wurde etwas von der Stimmung spürbar, der Nietzsche ein literarisches Denkmal gesetzt hatte: „Trautes Dörflein! Wie oft gedenke ich dein! Hätte ich Flügel, ich würde mich über Höhen und Thäler schwingen und dir zueilen. Wenn die rosenfarbene Aurora die Bergesspitzen küsst, wenn das Abendrot die düsteren Haine mahlt, in dir weilt mein Sinn.“
Horst Samson